Dietrich Ungerer: Militärische Lagen. Analysen – Bedrohungen – Herausforderungen. Berlin (Carola Hartmann Miles-Verlag) 2007

 

Dietrich Ungerer gilt in den Streitkräften der Bundeswehr aber z.B. auch bei Polizeikräften als anerkannter Experte für Fragen zu Einsätzen in Extremsituationen. Seit 40 Jahren beschäftigt er sich damit und seine Veröffentlichungen dazu, allein aus der letzten Hälfte dieser Zeit, lassen sich sehen. Unter dem Aspekt der „Militärischen Lage” hat er nun seinen Ansatz aus allgemein psychologischer Sicht weiterentwickelt. Angeregt dazu wurde er durch die offensichtlichen Veränderungen durch das Bild der Neuen Kriege, durch das internationale Einsatzgeschehen in den letzten beiden Jahrzehnten und durch den Abschied von den vertrauten Lagen des klassischen Kriegsbildes. Der Bezug auf die Neuen Kriege ist sicher emotional hilfreich, im Grunde aber nicht notwendig. Denn die eindrucksvollen Bilder in den Lagebeispielen machen vom Grundsatz her eigentlich nur deutlich – Neue Kriege hin oder her –, dass es sich bei diesem Thema um das harte soldatische Brot handelt, was zum tödlichen Ernst gehört „dort unten“, wo Kampf und Einsatz konkret werden.

Ungerer hat ca. 600 Lagen – von Caesar bis zu den Taliban, von der Mirko-Lage für den einzelnen Kämpfer bis zur politisch-strategischen Makro-Lage – analysiert und besonders anhand von Schwachstellen in Lagen Kriterien zum Verständnis von deren funktionaler Ordnung entwickelt. Sie sind aus wissenschaftlich-theoretischer Sicht bedeutsam, um Einsätze, Strategien und Lagen psychologisch erfahrbar zu machen, sie logisch miteinander vergleichen und deuten zu können, sie nicht als chaotisch sondern beherrschbar zu erfahren sowie daraus Erkenntnisse für den Umgang mit Lagen z.B. in der Ausbildung zu gewinnen. Um Ungerers Grundverständnis auf einen kurzen Nenner zu bringen: Lagen sind. „Die Steuerung des Umgangs mit Lagen übernimmt die Lagebewertung.” In diese fliessen das Lageverständnis, die Lageerkundung, das Menschenbild und das Denkrevier ein. Diese von Ungerer neu entwickelten und definierten Faktoren scheinen auf den ersten Blick das bekannte militärische Handwerkzeug für den Militär zu sein. Bei genauerem Lesen wird aber ersichtlich, dass dieses überkommene Verständnis der Lage unter Ungerers Sichtweise sich total wendet. Die Prinzipien – z.B. das Verständnis und die Bedeutung von Prospektivinformationen – führen zu Sichtweisen für Lagen, bei denen altbekannte Probleme in einem praktikablen Licht erscheinen. Dabei wird z.B. das Menschenbild zur handhabbaren Funktionsgrösse und kann dadurch in Lageanalyse und Lagebewertung wirklich Eingang finden. Oder: Menschenbildregressionen in derart extremen Situationen folgen einem gesetzmässigen psychischen Regressionsverlauf; um sie zu verstehen und einschätzen zu können, seinen nach Ungerer weniger Strategen als Lernspezialisten notwendig.

Dies alles hat zur Folge, dass Ungerer ein bisher weniger gewohntes Vokabular einführen muss. Denn nur auf diesem Weg der Verfremdung wird das Neue deutlich. Zudem sind Befürchtungen der Verständlichkeit nicht angesagt. Die Ausführungen auch in den kurzen theoretischen Einführungen sind sehr gut lesbar, verständich und die eindrücklichen Bilder gut nachvollziehbar. Der mehr nur an Lagen orientierte Leser braucht sich daher nicht vom ersten Eindruck abschrecken zu lassen, zumal es die löbliche Intention diese Buches ist, sich mit dem Grossteil der besonders eindrucksvollen Lagebeispiele gerade an den Nichtakademiker zu wenden. Sie könnten auch als eigenes Handbuch für den Soldaten eine wichtige Quelle abgeben. Dazu bedürfte es in einer weiteren Auflage eines Glossars, um das Buch z.B. zum Selbststudium besser nutzen zu können. So verlockend diese Ausgliederung der Lagebeispiele auch sein mag, sie führte doch auf einen Abweg, denn das Thema Lagen erschliesst sich doch nur aus dem Gesamt des neuen Ansatzes mit den erklärenden Bseispielen, vom Kampf des einzelnene Soldaten bis zur grossen Strategie.

Es stellt sich dabei natürlich die Frage, ob sich in der Bundeswehr der Schwerpunkt der Debatte um Fragen von Einsatz angesichts der Neuen Kriege verlagert hat oder verlagern wird. Das Thema Einsatz ist seit den Anfangstagen der Bundeswehr offen. Hatten damals doch die Vertreter der Inneren Führung vor einem permanenten Bürgerkrieg und vor Partisanenkrieg gewarnt, bei denen der Soldat in der Gefahr schwebe, sich zu subversiven Handlungen verleiten lassen, die er aus seinem Wertesystem eigentlich ablehnt. Genau diese Gefahr spricht auch Ungerer mehrfach an. Dennoch scheint es, dass dies jetzt die Innere Führung einholt. Das wird besonders deutlich, wenn Ungerer Deeskalation als eine gefährliche politische Setzung bezeichnet, wenn er von einer „Schiessschwellenspannbreite“ spricht, die vom einzelnen Soldaten nicht zu verkraften sei, oder wenn er im Zusammenhang mit Kulturnischen vor Kultureller Selbstaufgabe warnt. Wenn dies richtig sein sollte, wäre das Bild vom „Soldat für den Frieden” als wesentlicher Teil der Inneren Führung ad acta zu legen. Damit bietet sich „Ungerer“ angesichts der Neuen Kriege auch als Anstoss für eine notwendige klärende Diskussion in einer altbekannten Debatte an.